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Eine Allianz gegen die Blockade

Ein Jahr vor den eidgenössischen Wahlen: ein Aufruf an die schweizerische Linke zu einem grossen Bündnis über die Parteien und Bewegungen hinweg.

Wer in diesen Tagen aus einer linken Perspektive den Status quo zu beschreiben versucht, wird sich leicht in der Aneinanderreihung der verschiedenen Krisen und Katastrophen verlieren. Eine nie da gewesene Manifestation der Klimakrise in Form von Hitze, Dürre, Überschwemmungen, Bränden und unzähligen toten Menschen, ertrunkenen Tieren und verbrannten Pflanzen. Kriege, soziale Verwerfungen, die Abschaffung sexueller und reproduktiver Rechte, autoritäre Regimes, Zusammenbrüche ganzer Wirtschaftssysteme.

«Die nächsten Wahlen können – ja müssen – zum Wendepunkt werden.»

Auch hierzulande wird gerade vieles manifest, wovor linke Kräfte seit Jahren warnen. Der Landwirtschaft fehlt das Wasser, im Sommer wird die Hitze in den Städten unaushaltbar. Als Reaktion auf Russlands völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine beteiligt sich auch die Schweiz am Wettrüsten. Grosskonzerne, die während der Coronapandemie mit staatlichen Millionen unterstützt wurden, schreiben wieder Milliardengewinne und schütten exorbitante Dividenden aus, während Menschen stundenlang für Lebensmittel Schlange stehen. Die rechtsbürgerliche Mehrheit im Parlament macht alles, um die Profite der Grossen noch ein paar Jahre länger zu sichern, während linke Anliegen kalt abgeschmettert werden. Und auch hierzulande erleben wir einen antifeministischen Backlash. So wollen Politiker:innen – mit Rückenwind aus den USA – den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen erschweren.

Überfälliger Umbau

Das Programm des bürgerlichen, rechten Blockes, der sich derzeit in einer neuen Allianz von Wirtschaftsverbänden und Bauernverband organisiert, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Steuern werden gesenkt oder abgeschafft und staatliche Ausgaben, besonders beim Sozialstaat, weggespart. Das neoliberale Märchen verspricht damit Wirtschaftswachstum und Wohlstand – der noch dazu allen zugutekommen soll. Nötige Investitionen und Auflagen, wie dies die Klimakrise beispielsweise erfordern würde, stehen kaum auf dem Plan. Auf die grossen Fragen unserer Zeit liefert der bürgerliche Block keine Antworten. Im Gegenteil: Er blockiert und torpediert jegliche Bemühungen, die das Fortbestehen der menschlichen Zivilisation und ein Leben in Würde für alle zum Ziel haben.

Trotzdem gewinnen die bürgerlichen Parteien mit diesem Programm Wahlen und Abstimmungen, können sich in den Exekutiven halten. Die neoliberale Erzählung immunisiert die kapitalistischen Machtverhältnisse gegen ihren überfälligen Umbau. Vor dieser Erzählung ist auch die Linke nicht gefeit; in mancher Hinsicht ist sie selbst Teil des Systems geworden, das sie bekämpft. Das führt dazu, dass selbst für viele Linke eine andere Gesellschaft kaum mehr denkbar ist – und es stabilisiert gleichzeitig ein System, dessen Gestalt die Krise ist. Das ist keine neue Erkenntnis. Doch der Kampf um die kulturelle Hegemonie, den der italienische Philosoph Antonio Gramsci schon vor fast hundert Jahren beschrieb und den sich auch die Schweizer Linke zur Aufgabe gemacht hat, ist nur bedingt von Erfolg gekrönt.

Während die Linke in den letzten Jahren besonders steuerpolitische Referenden gegen die rechte Mehrheit gewinnen konnte, unterlag sie an der Urne auf fast allen anderen Politikfeldern. Zwar verliert sie immer wieder äusserst knapp wie jüngst bei der AHV, aber etwa auch bei der Konzernverantwortungsinitiative oder dem Kampfjetreferendum. Doch bleiben tiefgreifende Reformen anscheinend unmöglich. Auch deshalb, weil sich die Mehrheitsverhältnisse – trotz der Entstehung neuer und der Verstärkung bestehender zivilgesellschaftlicher Bewegungen und einiger elektoraler Erfolge – nicht entscheidend verändert haben. Diese Ausgangslage ist ein Grund, weshalb sich die Schweizer Politik in Themen wie Klima-, Sozial-, Migrations-, Staats- und Aussenpolitik in der Blockade befindet. Vor dem Hintergrund der multiplen und sich gegenseitig verstärkenden Krisen ist dies für die Linke kein hinnehmbarer Zustand.

Um aus dieser Blockade herauszufinden, braucht die Linke unter anderem die parlamentarische Macht. So können Antworten auf die ökologischen, demokratischen und sozialen Krisen geliefert und umgesetzt werden. Kurz: Wir brauchen die Mehrheit. Wir brauchen über 50 Prozent.

Eine neue Erzählung

Was bei den Wahlen in Frankreich erst viel zu spät und aus einer Not heraus passierte – nämlich ein Bündnis linker Parteien –, könnte heute in der Schweiz seinen Anfang finden. Wir treten gemeinsam zu den eidgenössischen Wahlen im Herbst 2023 an, um gemeinsam als Bewegung zu gewinnen. Die nächsten Wahlen können – ja müssen – zum Wendepunkt werden.

Damit das gelingt, schlagen wir vor, dass die Schweizer Linke dem neoliberalen Märchen eine neue Erzählung entgegensetzt. Eine Erzählung, die die Perspektive auf eine gute Zukunft für alle eröffnet. Positiv, kämpferisch, feministisch und transformativ. Damit soll nicht nur eine andere Gesellschaft denkbar gemacht, sondern es sollen auch Wege dahin skizziert werden. Dieses neue, gemeinsame Verständnis ist die Bedingung für eine geeinte linke Bewegung und kann die nötige Kraft entwickeln, die es für einen radikalen Umbau dieses Landes braucht. Jetzt ist der Moment, diese Erzählung zu entwickeln.

Wir möchten deshalb die Diskussion über eine neue linke Allianz lancieren. Eine Allianz für die ökosoziale Transformation, die auf der gemeinsamen Erkenntnis beruht: Rot geht nur mit Grün und umgekehrt. Ungleichheit und Klimakrise hängen zusammen. Energiewende muss soziale Sicherheit für alle bedeuten. Klimagerechtigkeit geht nur antirassistisch und queerfeministisch.

Nur in einer Allianz kann eine Gegenmacht zum bürgerlichen Block aufgebaut werden. Unsere neue Allianz wird durch die gemeinsame Erzählung zusammengehalten, die die Essenz dessen beinhaltet, wofür soziale Bewegungen, Gewerkschaften, NGOs und linke Parteien seit jeher kämpfen.

Mut zum Widerspruch

Die Allianz darf aber nicht in Meinungseinfalt münden. Widerspruch muss darin Platz haben und konstruktiv angegangen werden, denn er bringt uns weiter. So sollen etwa der Parlamentarismus sowie der Lobbyismus kritisch beleuchtet werden. Unsere Demokratie könnte mithilfe von Bürger:innenräten und anderen partizipativen Entscheidungsprozessen weiterentwickelt werden. Nicht zuletzt muss eine Debatte über die Rollen der verschiedenen Akteur:innen geführt werden und traditionell linke Kampfmittel wie Streiks, Blockaden, Besetzungen und Sabotage, die teilweise in den eigenen Reihen in Verruf geraten sind, diskutiert, wiederbelebt und weitergedacht werden. Wollen wir eine durchschlagskräftige linke Bewegung sein, muss dies und noch mehr darin Platz finden.

Als linke Bewegung kann und wird es nicht mehr reichen, den Status quo richtig zu analysieren. Die Frage wird vielmehr sein, ob wir imstande sind, die nötigen gesellschaftlichen Kräfte in Gang zu setzen, die die politischen Kräfteverhältnisse zu verändern vermögen. Kurz: Es wird darum gehen, ob wir das Verständnis schaffen können, dass nur eine radikale ökosoziale Transformation unser Dasein auf diesem Planeten sichern und ein gutes Leben für alle ermöglichen kann. Die nationalen Wahlen im Herbst 2023 sind der richtige Zeitpunkt, die linke Mehrheit das richtige Ziel.

www.50-prozent.ch

Bundesrats-Entscheid: Wird es reichen?

Der Bundesrat hat neue Corona-Massnahmen entschieden. Das ist ein kurzer Wochenrückblick, den Melinda Nadj Abonji und ich an die Unterzeichnenden des Aufrufs «Gegen die Gleichgültigkeit» geschickt haben:

Liebe Unterzeichner*innen

Wir alle warteten am Freitag auf die Kommunikation des Bundesrates in der Hoffnung, dass endlich die dringend notwendigen Entscheidungen getroffen würden, die längst hätten getroffen werden sollen. Am Nachmittag präsentierte die Exekutiv-Behörde dann folgende Massnahmen, die vom 22. Dezember bis zum 22. Januar 2021 gelten sollen:

  • Restaurants und Bars werden geschlossen.
  • Sportbetriebe, Museen, Kinos, Bibliotheken, Casinos, botanische Gärten und Zoos werden auch geschlossen. Veranstaltungen mit Publikum bleiben verboten.
  • Die Kapazität von Läden wird nochmals eingeschränkt, sie bleiben ab 19 Uhr, sowie an Sonn- und Feiertagen geschlossen.
  • Empfehlung: Bleiben Sie zu Hause.
  • Weiterhin gelten: Homeoffice-Empfehlung, ausgedehnte Maskenpflicht, etc.

Einen kompletten Lockdown will der Bundesrat, so sagte er am Freitag, verhindern. Während die Schliessung der Restaurants sicherlich einschneidend ist, sind die Massnahmen massiv lockerer, als dies noch wenige Tage davor erwartet worden war. Nur – reicht das? Das ist die wesentliche Frage.

Manuel Battegay, Epidemiologe und Mitglied der wissenschaftlichen Covid-Taskforce des Bundes, mahnte am Freitag in der SRF Arena: «Wir denken, es braucht mehr. Das belegt auch die wissenschaftliche Evidenz. Wenn wir uns die Romandie ansehen: Die Zahlen sanken nach den dortigen Massnahmen zuerst, aber jetzt steigen sie wieder. Wir brauchen eine nachhaltige Verbesserung der Situation. Die Mobilität muss sinken, die Kontakte müssen eingeschränkt werden.»

Der aufrüttelnde und berührende Höhepunkt der Sendung war eine Direktschaltung zum Leiter der Pflege Intensivstationen des Kantonsspital Aarau. Mit Maske und in Schutzkittel schilderte Martin Balmer eindringlich, dass die Leute erschöpft sind, sich nicht mehr genügend erholen können und seelisch belastet sind: «Ich habe noch nie in den 30 Jahren Intensivmedizin erlebt, dass Ärzte und Pflegende so viel weinen.» Und ein Ende sei nicht absehbar. Balmer schloss seinen Beitrag mit den Worten: «Vergesst uns nicht!»

Genau das ist aber geschehen: Obwohl sich die Situation seit dem Herbst dramatisch zugespitzt hat, wurde die Situation in den Spitälern und Alters- und Pflegeheimen zu wenig ernst genommen. Die so genannte Zweite Welle machte es notwendig, die Bettenkapazität zu erhöhen – aber das Pflegepersonal fehlte; infolgedessen rief man Pflegende aus ihren Ferien zurück, ehemalige Mitarbeitende wurden wieder aufgeboten und neues Personal musste kurzfristig eingeschult werden.

Auch das reicht gegenwärtig nicht: es ist bekannt, dass sogar positiv auf das Coronavirus getestetes Pflegepersonal arbeiten muss. Die Pflegenden begleiten die schwerkranken Menschen oftmals allein bis in den Tod, da wegen des Coronavirus ein Besuchsstopp herrscht, die Familien also am Totenbett nicht anwesend sein können. Als wäre das nicht genug, lastet auf den Pflegerinnen und Pflegern eine schwere, seelsorgerische Aufgabe, nämlich die Angehörigen während dem Sterbeprozess per Telefon zu begleiten.

Aus einer wissenschaftlichen Sicht ist längst klar, was es für eine Senkung der Ansteckungen braucht: Die Reproduktionszahl, welche die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Krankheit beschreibt, muss drastisch gesenkt werden – und zwar auf höchstens 0.8, wie die Wissenschaftler der Taskforce schon im Oktober sagten. Ein R-Wert von 0,8 bedeutet: 100 Corona-Infizierte stecken 80 weitere an. Damit würden sich die Neuansteckungen rund alle zwei Wochen halbieren.

Umso erstaunlicher ist, dass gemäss aktuellem Bundesratsbeschluss Kantone mit einer Reproduktionszahl unter 1 die Restaurants und Sporteinrichtungen wieder öffnen können. Mit einer Reproduktionszahl, die knapp unter 1 liegt, kann bestenfalls eine Stabilisierung oder nur eine sehr langsame Reduktion der Infektionen und der Todesfälle erreicht werden, wie Daniel Binswanger in seiner Republik-Wochenkolumne schreibt: «Das grosse Sterben wird weitergehen.»

Wir befürchten deshalb, dass die vom Bundesrat beschlossenen Massnahmen nicht ausreichen, um die Zahlen effektiv zu reduzieren. Und auch nicht, um die Spitäler und die Pflegenden zu entlasten.

Es drängen sich die Fragen auf: Wie viele Menschen werden noch sterben, bis die politischen Entscheidungsträger die Gesundheit und das Leben als oberstes Gut anerkennen? Wie lange dauert es noch, bis sich die Schweiz geschlossen aus ihrer moralischen Apathie löst, die das Sterben von betagten Menschen mit einem gleichgültigen Schulterzucken hinnimmt?

Die klarste Botschaft diesbezüglich kam nicht von einem amtierenden Mitglied des Bundesrates, sondern von der Alt-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, gegenwärtige Stiftungspräsidentin der Pro Senectute. In einem Interview mit dem Blick sagte sie diesen Donnerstag: «Ich frage mich, wer denn in einer Gesellschaft leben möchte, in der man den Wert eines Lebens am Alter einer Person misst.»

Der fehlende politische Wille und das mangelnde Mitgefühl der Entscheidungsträger ist erschütternd. Das zeigt, dass unser Engagement wichtig ist – und bleibt. Wir machen weiter und danken euch, wenn ihr den Aufruf weiterhin teilt.

Klicke hier, um den Aufruf über unsere Webseite zu teilen.

Wir werden uns vor den Festtagen nochmals bei euch melden und wünschen euch bis dahin alles Gute und gute Gesundheit.

Herzliche Grüsse
Melinda Nadj Abonji & Dimitri Rougy

PS: Wir empfehlen euch sehr herzlich die Sendung «Gredig direkt» mit Adolf Muschg, der unseren Aufruf erstunterzeichnet hat. Im SRF blickt er unter anderem auf das bald endende Jahr 2020 zurück. Hier findet ihr die Sendung.

350 Millionen Steuerboni für die Reichsten? 🤬

SVP, FDP und CVP haben beschlossen, die Kinderabzüge bei der Bundessteuer auf 10‘000 Franken zu erhöhen und damit fast zu verdoppeln. Was als Familienförderung verkauft wird, ist ein reiner Bonus für Topverdiener. Denn von den Abzügen bei der direkten Bundessteuer profitieren nur jene, die es nicht nötig haben.

Jetzt gilt’s ernst 😱 : Kannst du ein Plakat aufhängen?

In weniger als einem Monat entscheiden wir, wie das nationale Parlament für die nächsten vier Jahre aussehen wird. Diese Wahl ist entscheidend, denn wir könnten die SVP-FDP-Mehrheit brechen.

Die Umfragen sehen gut aus. Aber Umfragen sollten wir nicht zu sehr trauen. Denn am Ende zählt das, was die Wähler*innen in die Urne legen.

Deshalb müssen wir in den nächsten Wochen nochmals alles geben. Und dazu brauche ich deine Hilfe.

Hilfst du mir, Flyer zu verteilen und Plakate aufzuhängen?

👉🏽 Ja, ich helfe mit!

Vielen Dank für dein Engagement! Gemeinsam können wir am 20. Oktober die Weichen neu stellen.

Solidarisch,
Dimitri Rougy

SOS Amazonia

Unsere Lunge ist in Flammen. Während der Amazonas brennt, tun unsere Regierungen – nichts. Die Medien berichten – nicht.

Und was tun wir?

Morgen Freitag, gehen wir überall in der Welt auf die Strasse, um auf die Brände im Amazonas aufmerksam zu machen. Seid dabei!

#SOSamazonia: Morgen 23.8. in Zürich 12.15 bis 15.30 (Rondell, Platzspitz), in Bern von 12.00 bis 13.00 Uhr (Bubenbergplatz), in Genf von 12 bis 13.00 Uhr (Rue de Lausanne) und in Lausanne von 17.00 bis 18.15 (Place de St. Francois).

Die Liste aller Aktionen findet ihr hier.

Wollt ihr eine eigene Aktion starten: hier lang. 

 

Jetzt hören: FemmeFact!

Mit Natascha Wey und Min Li Marti. 🎧✊🏽

In jeder Folge diskutieren die beiden Sprecherinnen mit interessanten Gästen Themen, die die feministischen Bewegungen beschäftigen.

Hier reinhören:

Abrissbirnen gegen den Sozialstaat

Neoliberale und Rechte haben bekanntlich eine zwanghafte Neigung zur Zerstörung der Welt in der sie leben und ihrer selbst. Sie roden Wälder und zerstören die Umwelt, schliessen Schulen und senken dafür Steuern, nutzen direktdemokratische Mittel zur Aushölung der Menschenrechte und greifen den Sozialstaat an, wann immer sie können.

Ein Beispiel aus der Schweiz.

Im Frühling erliess das Schweizer Parlament ein Gesetz, das die Überwachung aller Sozialversicherten ermöglichen soll. Ob Kranken- oder Unfallversicherte, Rentner*innen oder Menschen mit Behinderung – alle sollen mit dem neuen Gesetz überwacht werden können. Was viele Rechtsprofessor*innen zum Aufschrei zwingte: Kein Richter kann über die Massnahme entscheiden und mit der Überwachung bis in Privaträume hinein, erhalten die Versicherungen mehr Mittel als die Polizei und Staatsanwaltschaften.

Nun gut, um den Rechtsstaat kümmerte sich das Parlament nicht so sehr. Wann immer rechtsstaatliche Bedenken geäussert werden, torpedieren die Überwachungs-Befürworter Zahlen um sich und irritieren damit nicht nur sich selbst. Also weiter.

Unter dem Vorzeichen der Missbrauchsbekämpfung wurde das Gesetz vom Parlament angenommen. Es steht allerdings in einer Reihe von Vorstössen und Gesetzen. Stetig wird der Spardruck auf die Institutionen erhöht, Leistungsbezüger*innen schikaniert, Beiträge gekürzt und Überwachungsmassnahmen verschärft. Ein bitterer Mix aus Klassismus und Fremdenfenidlichkeit feuert die Versicherungslobby und die Rechte in ihrem Feldzug gegen solidarische Einrichtungen und eine ernst gemeinte Sozialpolitik an.

Nicht ohne Grund hat Christoph Blocher, Übervater der rechtsnationalen Partei SVP, im Wahlkampf 2003 den Begriff «Scheininvalide» kreiert und mit populistischer Stimmungsmache die Empörung in der Stimmbevölkerung hochgekocht. Mit der Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung schaffte er fruchtbaren Boden. Für massive Verschärfungen und einen Sieg für seine Partei.

Das Trauerspiel der Schweizer Sozialpolitik: Institutionen, die früher als Auffangnetze für Arme, Schwache, Kranke und Alte eingesetzt wurden, werden von neoliberalen Abrissbirnen in den Parlamente zugrundegerichtet. Schritt für Schritt. Gesetz um Gesetz.

Der Überwachungsartikel steht symptomatisch für die vergiftete Stimmung in der Schweizerischen Sozialpolitik: Wer es nicht alleine schafft, dem wir auch nicht geholfen.

Während 62 Tagen haben wir eine Bürger*innen-Bewegung gegründet und über 75’000 Unterschriften gegen das Gesetz gesammelt. Jetzt wird am Sonntag nach einigen Monaten Abstimmungskampf die Schweizer Stimmbevölkerung entscheiden ob die Versicherungen neu auch Polizeiarbeit machen sollen und wir das staatliche Gewaltmonopol damit in Frage stellen wollen.

Weder linke Organisationen noch Parteien wollten das Referendum anfangs ergreifen. Sie verwiesen auf strategische Entscheide und liessen verlauten, dass es ungeschickt sei, den Neoliberalen und Rechten mit dieser Abstimmung knapp ein Jahr vor den nationalen Wahlen in die Hände zu spielen. Das kann eine Haltung sein. Was aber, wenn gerade jetzt die Zeit gekommen ist, nicht mehr zuzuwarten und in alte wahlstrategische Muster zu verfallen, sondern die Grundrechte zurückzufordern und das zu beschützen, was doch eigentlich lange als selbstverständlich galt?

In allen Regionen der Welt kriechen Neonazis durch die Strassen, schüren Agression und Brutalität. Und werden dann auch noch von jenen in die Parlamente gewählt, die von ihnen verachtet werden und deren Existenz sie gerade auslöschen. Trump, Erdogan, Putin und wie sie alle heissen, sind aber nur die Bulldozer, die den Weg freimachen für den totalen und enthemmten Neoliberalismus. Ohne Sozialstaat, ohne Regulierung, ohne Demokratie. Alles muss weg.

Was es jetzt braucht ist ein Aufstand. Wir können demonstrieren und Petitionen sammeln. Songs und Kolumnen schreiben. Wir können uns vernetzen. Es braucht einen Aufstand der Zivilgesellschaft, die dafür einsteht, worauf wir uns eigentlich einmal geeinigt hatten: Eine solidarische und demokratische Gesellschaft, in der alle in Würde krank und alt sein dürfen.

Handeln, bevor wir nicht mehr können

Seit Wochen demonstrieren weltweit Millionen Schüler*innen für die Rettung des Planeten. Sie streiken für ihre Zukunft, die sie bedroht sehen. Sie tun es trotz der Politiker, von denen sie verhöhnt werden. Von denen sie nicht gehört werden.

Die Erdöl-Lobbyisten der SVP opfern für kurzfristigen Profit das Überleben der nächsten Generation. Sie sind nicht an der Bevölkerung interessiert, die jetzt bereits unter Ernetausfällen und Hitzesommern, unter Dürre und schlechter Luft leidet. Und das ist nur der Beginn der Sichtbarwerdung jahrzehntelangen Missbrauchs unserer Ressourcen. Der Ausbeutung der Natur. Der Welt. Und damit auch der Schweiz.

Denn nicht nur in Mosambik und Tansania, wo ein Zyklon gerade hunderte Menschen tötete und Hunderttausenden das Dach über dem Kopf wegriss, müssen wir in den nächsten Jahren immer mehr mit Katastrophen rechnen, sondern auch hier. Der Alpenraum ist sogar doppelt so stark von der Klimakrise betroffen. Wer ins Berner Oberland fährt, sieht die Auswirkungen bereits heute: Gletscherschwund, Erdrutsche, Hochwasser. 

In den nächsten zwanzig Jahren werden ein Grossteil der Oberländer Skigebiete radikal umdenken müssen, denn der Schnee wird jährlich weniger. Und irgendwann reichen auch die Schneekanonen nicht mehr. Die Touristen werden fehlen, die Bahnen schliessen, Menschen entlassen und Familien abwandern – die ökologische Frage ist auch immer eine Ökonomische und eine Soziale.

Wir können also Nichts tun und abwarten, bis alle Bahnen schliessen und es uns die Berge entgegenschwemmt. Oder aber wir handeln. Wir können uns zusammenschliessen und Streikgruppen starten, uns auf allen Ebenen in der Politik engagieren und den Klimanotstand ausrufen. Es ist noch nicht zu spät!

Wenn Fakenews ausgewogener sind als Realnews

Wir, Franziska Schutzbach und Dimitri Rougy, haben auf dieser Seite einen Text über Gewalt an Frauen geschrieben und ihn als Tagesanzeiger-Text von Constantin Seibt aussehen lassen. Wir handelten als Einzelaktivist_innen, wir sind keine Organisation, sondern zwei Menschen, die sich im Zuge von SchweizerAufschrei kennen gelernt haben.

Wir haben diese Aktion gemacht, um die öffentliche Aufmerksamkeit verstärkt auf das Thema Gewalt an Frauen zu lenken. Wir haben die Maske benutzt, weil die tatsächlichen Medien zu wenig berichten. Wir wollten mit der Aktion etwas deutlich machen: Nämlich, dass in Wahrheit ein solcher (oder ähnlicher) Text eher unrealistisch ist. Wir wollten den Finger darauf halten, dass genau solche (oder ähnliche) Texte und Reflexionen fehlen. Gerade auch von den so genannten Meinungsmachern. Meinungsmacher, welche die Medien durchaus sind, sind in der Schweiz zu drei Vierteln von Männern dominiert. Interviewpartner und Journalisten formen die Meinung der Schweizer_innen. Interviewpartner_innen und Journalist_innen, welche nicht Männer sind, sind klar untervertreten. Ein grosser Missstand für eine Demokratie, wie sie die Schweiz sein möchte.

Wir wollten zunächst bewusst täuschen, klar war aber von Anfang an, dass das Ziel eine Auflösung ist. Wir waren überrascht, dass der Fake nicht schneller aufflog. Der Text wurde vielfach geteilt, wir haben dafür unsere Netzwerke genutzt. Es tut uns Leid, wenn manche sich deshalb hintergangen fühlen, diese Kritik nehmen wir an. Und würden ein ander Mal anders handeln. Unsere Intention war aber, niemanden als „Mit-Wissende“ mit rein zu ziehen, weil diese Aktion in einem juristischen Graubereich ist. Wir wollten also niemanden ‚instrumentalisieren’, sondern schützen. Vielleicht war das auf diese Weise falsch.

Die Vorstellung, Constantin Seibt könnte diesen Text geschrieben haben, hielt sich erstaunlich lang. Wir selber hätten es übrigens auch geglaubt. Das ist schön, es bedeutet nicht, “hereingefallen zu sein”, sondern es bedeutet, es für möglich zu halten, dass in der Schweiz bekannte Journalisten solche Texte schreiben. Und das bedeutet doch, dass wir vielleicht doch nicht so weit davon entfernt sind.

Aber damit ist die Aktion noch nicht vorbei. Dazu gehört auch das, was danach folgt. Constantin Seibt selber hat mit viel Humor reagiert und seine Antwort zeigt auch, dass dieser Artikel wichtig ist. Wir denken, das ist eine gute Ausgangslage für weitere Debatten zu diesem Thema.

Der Kampf gegen die Klimakrise, für echte Gleichstellung und eine soziale Schweiz schaffen wir nur gemeinsam. Bist du dabei?

Sie haben die Millionen, wir die Menschen. Vielen Dank für deine Spende!